Hallo,
im Oktober ist mein 30jähriger Bruder gestorben.
Er hatte das Downsyndrom und wir wussten, dass seine Blutsauerstoffsättigung schlecht war, weshalb er seit Jahren Medikamente bekam.
Er hatte immer wieder Bronchitis, was wir teils auf psychische Ursachen zurückführten - sobald er Stress hatte oder sich selbst machte, wurde er mal für ein paar Wochen krank.
Anfang Oktober kam er nach 4 Wochen Krankschreibung, die er zu Hause verbracht hatte, spontan ins Krankenhaus, weil er nach eigenen Angaben keine Luft mehr bekam.
Dies war eigentlich eine spontane Entscheidung, weil der Hausarzt am Mittwoch nicht geöffnet hatte.
Er hatte seit Jahren Probleme mit dem Laufen, was abwechselnd auf psychische Ursachen, Verweigerung, Übergewicht & Bequemlichkeit, einer Fußverletzung und Ödemen zurückgeführt wurde.
Er wollte dann auch nicht vom Zimmer im Erdgeschoss zum Auto laufen, wurde dann aber von meiner Mutter überredet, es langsam zu versuchen (statt dass wir den Rollstuhl, der für Notfälle da war, aus dem Kofferraum hätten hieven müssen, um ihn zur Haustürtreppe zu fahren).
Im Auto ging es ihm sofort besser, weil wir auf dem Weg ins Krankenhaus waren (er war "Arzt-Fan").
Im Krankenhaus gab es erst mal einen Leihrollstuhl und er sagte bei der Aufnahme "Hilf mir!" sehr eindringlich.
Dann ging es zur Eingangsuntersuchung und er war nur am Lachen und Scherzen, weil nun überall Ärzte waren.
In den folgenden drei Wochen war er zweimal auf der Intensivstation, wo er Sauerstoff durch verschiedene leichte und "schwere" (am Kopf festgebundene) Masken bekam und die Werte ständig gemessen wurden und schlecht waren.
Zwischenzeitlich auf der normalen Station, wo er nur eine Nasenbrille bekam und nichts mehr gemessen wurde.
Nachts war immer jemand bei ihm, wir waren aber alle extrem übermüdet und speziell ich hatte auch das Gefühl, ich würde etwas falsch machen, da er bei mir nachts nie schlief.
Erst nach seinem Tod erfuhr ich, dass er das auch in den 4 Wochen zu Hause nicht getan hatte.
Zudem sagte er mir mal nachts "ich kann nicht mehr", was ich mit den (müden) Worten quittierte "du sollst ja auch nicht können, du sollst schlafen".
Am Abend nach seinem Tod erfuhr ich von meiner Mutter, dass er diesen Satz wohl immer gesagt hatte, wenn er keine Luft mehr bekam.
Im Krankenhaus bekamen wir keine definitive Diagnose oder Erklärung (im Gegenteil, wir störten, da immer ein Angehöriger da sein musste, da mein Bruder sonst extreme Angst bekam).
Kurz und gut: Nach seinem Tod, der dadurch beschleunigt wurde, dass meine Eltern beschlossen, alle Medikamentengaben zu unterlassen und nur noch die leichte Sauerstoffmaske aufzulegen, googlete ich mal "zu viel Kohlendioxid im Blut" und stellte fest, dass viele der Symptome, die er vorher und im Krankenhaus gezeigt hatte, dadurch zu erklären waren, z.B. extremes Schwitzen und nächtliche Angst (die ich auf fehlendes Vertrauen mir gegenüber zurück geführt hatte).
Ich war in den ersten Nächten auch öfter recht ungeduldig gewesen, da ich nur 3 Stunden am Tag schlafen konnte und nachts maximal 20 min am Stück, dann wurde ich geweckt.
In der letzen Woche war ich eine Nacht bei ihm, in der es abwechselnd auf und ab ging und er plötzlich ein Zittern und Händen und Füßen hatte, von dem ich anfangs nicht wusste, ob das Absicht von ihm war (er veralberte die Leute gern), bis er sagte, er könne das nicht kontrollieren.
Er bekam dann Sauerstoff und wie ich hinterher er-googelte, war dies schon eine Unterversorgung der Extremitäten (was keiner sagte).
Ansonsten war er abwechselnd guter Dinge, panisch, extrem wütend bis ängstlich über die Nachtschwester, die ihm über eine Kanüle - eigentlich schmerzlos - Blut abnahm (da traten die Augen hervor und er schrie, die wolle ihn umbringen).
Allg. ist sehr viel schiefgelaufen im Krankenhaus, was nicht hätte sein müssen:
Er wurde beim Hintern-Abputzen durch einen Pfleger wundgescheuert, die Therapie auf der normalen Station nicht weiter geführt, kein Sauerstoffgehalt mehr gemessen, wir bekamen keine Informationen, erst nach 6 Nächten ein zweites Bett für den Betreuer ins Zimmer, es wurde entweder uns oder auch der normalen Station nichts über seinen Zustand gesagt - mir wurde eine Woche vor seinem Tod von einer Nachtschwester gesagt, er könne in der Folgewoche wohl entlassen werden - er wurde teils grob behandelt (Maske überstreifen ohne Ankündigung) und am schlimmsten waren mehrere unbedachte Aussagen von Ärzten und Pflegern vor ihm etwa "wenn wir die Maske abnehmen, dann stirbt er" oder "wenn er nicht aufhört, sich die Kanülen abnehmen zu wollen, kann ich die Hände auch festbinden" oder "Wenn er das nicht schluckt, stecke ich ihm einen Schlauch in die Nase".
Das alles hat er voll mitbekommen und die Drohung, die Hände festzubinden, noch ein paar Stunden vor seinem Tod.
Am Sonntagabend vor seinem Tod am folgenden Freitagmorgen war ich bei ihm für die Nachtwache und las ihm die "Speisekarte" für die Folgewoche vor (Essen war Lieblingsbeschäftigung) und er meinte bzgl. des Gerichtes am folgenden Sonntag "das interessiert mich nicht mehr".
Ab dem Montag aß er dann nichts mehr, was für ihn extrem ungewöhnlich war und keinen der Ärzte oder Pfleger interessierte.
Am Mittwoch war ich nachts da und ab Mitternacht bekam er nichts mehr zu trinken, da die Tagesmenge schon überschritten war (und musste bis zum Morgen warten).
Das wäre nicht nötig gewesen, da die Ärzte wohl wussten, dass er das Krankenhaus nicht mehr lebend verlässt.
Ich durfte mit ihm den letzen wachen Moment alleine verbringen; er lag Donnerstagnachmittag unter der schweren Maske, unter der er nicht reden konnte, und war quasi im C02-Koma.
Ich habe dann eine Stunde gesungen und er kam stückenweise zu sich, erst bewegte sich ein Finger, dann eine Zehe, ein Arm, die Beine usw. und am Ende setzte er sich zum ersten Mal seit ein paar Tagen alleine auf und sah mich sehr wach an und verstand mich auch (Kissen festhalten, nicht die Maske abnehmen) - leider kam dann der Pfleger, der die Hände festbinden wollte.
Als der Rest der Familie wieder ins Zimmer kam - dazwischen lag ein Arztgespräch, in dem die Entscheidung, alles bis auf die leichte Maske abzustellen,gefallen war - lag er zwar ohne Kanülen, dafür mich Blut von den Händen auf den Kissen und Händen und bewusstlos mit der leichten Maske im Bett. Vermutlich hatte der unsensible Pfleger ihm grob die Kanülen abgenommen und ihm ein Schlafmittel verpasst.
Er hatte über die ganze Zeit immer "mein Schleim" gesagt, teils auch 20 Mal nacheinander mit Wasser ausgespült etc.
Nun brachte meine Mutter die Überlegung ein, ob die akute Sauerstoffunterversorgung nicht durch einen Schleimpfropfen im Hals bedingt gewesen sein könnte und er daran erstickt ist.
Auf die Idee, nach einer Absaugung des Schleims zu fragen, kam aufgrund der Übermüdung auch keiner von uns, bzw. ich selbst dachte, dass die Ärzte schon alles Nötige einleiten würden.
Nun ist es seitdem so, dass ich mich in einem Wechselbad der Gefühle zwischen extremer Trauer (Weinen), dem Gefühl "es ist besser so" (vermutlich hätte er nur unter Schmerzen und großen Entbehrungen weiterleben können - z-B. hatte er die ganzen 3 Wochen einen Katheter, der nicht zwischendurch mal gewechselt wurde...) und dem kompletten Vergessen, dass er überhaupt gestorben ist (ich wohne nicht mehr im Elternhaus).
Hinzu kommt, dass ich unsicher bin, WAS denn nun das "angemessene" Gefühl sein sollte.
Auch so etwas wie eine Angst davor, zu wenig zu trauern, also zu wenig traurig zu sein.
Dann las ich kürzlich eine esoterischen Text, in dem behauptet wurde, dass "Trauer die Toten an die Trauernden bindet" und ihnen quasi einen Neuanfang irgendeiner Art verwehrt. Klick.
Dazu kommen natürlich Selbstvorwürfe über das, was so im Leben und speziell im Krankenhaus auch von meiner Seite alles falsch gelaufen ist bzw. besser hätte laufen können.
Aufgrund der Behinderung hat er natürlich öfter mal genervt, stand im Vordergrund, man hat ihm nicht so aufmerksam zugehört, wie man gekonnt hätte bzw. ihn nicht immer ernst genommen, weil er es schon sehr gut verstand, sich selbst in den Vordergrund zu rücken bzw. in der Familie auch den "Behindertenbonus" hatte (das und das können wir nicht machen, weil er das nicht kann/ will/ dann nervt" usw.
Zur Zeit warte ich auf ein Abschlussgespräch mit seinem Hausarzt, bei dem die Krankenhausakten vorliegen werden und evtl. die Hypothese des Erstickens durch Schleim etc. ausgeräumt werden kann.
Dazu ist allerdings meine Mutter noch nicht bereit.
Mein drängendstes Problem ist der Umgang mit der Trauer - ist zu viel oder zu wenig Trauer falsch - und der Umgang mit den unausweichlichen Selbstvorwürfen - "hätte ich doch mehr...".
Wie geht Ihr mit solchen Sachen um?
Alles Gute von
Sister