Hallo ihr Lieben,
Ich bin ganz neu hier, habe mich wegen eines akuten Trauerfalls registriert. Deshalb bitte ich auch im Voraus um Nachsicht, sollte ich die Forenetikette noch nicht ganz beherrschen.
Ich studiere Psychologie (bin 27) und glaube fest daran, dass es heilsam ist, seine Gefühle und Nöte mit anderen zu teilen.
Trotzdem bin ich selbst zuweilen ein bisschen zurückhaltend in dieser Hinsicht, auch mit Freunden. Man will ja niemandem zur Last fallen oder unangenehm berühren, usw.
Seit Freitag fühle ich aber einen starken Drang, über das zu reden, was mich seitdem belastet. Aber dazu muss ich etwas weiter ausholen.
Vor jetzt genau 8 Jahren habe ich angefangen, bei einer Familie in meinem damaligen Wohnort zu babysitten. Damals war ich noch Schülerin, aber lebte bereits allein. Ich wollte nicht nur meine Finanzen aufbessern, sondern auch Stunden sammeln, um mich für ein Au Pair-Programm zu bewerben. Dieses absolvierte ich dann auch zwischen 2011 und 2012. Zunächst aber war ich u. a. bei dieser Familie, nennen wir sie Familie H., tätig. Es waren nicht die einzigen Kinder, die ich bis heute betreut habe, aber die ersten, und wohl auch die, mit denen ich die meiste Zeit verbrachte und zu denen ich den engsten Bezug hatte (abgesehen von meinen Gastkindern in den USA). Die Eltern waren ziemlich wohlhabend und zeigten es gerne, besonders der Vater. Er war erfolgreicher Kieferchirurg (nachdem ich bereits ein paar Mal dort gewesen war, fiel mir plötzlich ein, dass auch ich als Kind bei ihm in Behandlung gewesen war - er hatte mir einen Weisheitszahn entfernt). Seine Partnerin war ebenfalls Zahnärztin und arbeitete in derselben Praxis. Ich könnte nun noch sehr viel über diese Leute schreiben, aber das werde ich mir, fürs erste zumindest, sparen.
Als ich anfing, war der Große (A.) 6 und die Kleine (E.) gerade 3 Jahre alt. Es war nicht immer superleicht mit ihnen, zumal ich ja noch unerfahren und unsicher war. E. war sehr anhänglich - fast zu sehr - und weinte sehr schnell, zumal sie abends immer ihre Mutter vermisste. A. war sehr intelligent, fast schon frühreif, und hatte zunächst eine etwas ablehnende, aufsässige Haltung mir gegenüber. Er war auch oft etwas melancholisch. Manchmal hatte ich auch das Gefühl, dass er eifersüchtig auf E. war, aber sich zugleich schon damit abgefunden hatte, dass er nicht so viel Aufmerksamkeit bekam wie sie. Außerdem schien er öfter mal die äußerst großspurige Haltung seines Vaters zu imitieren; dann wieder spürte ich bei ihm eine deutliche Distanz zu diesem. Er sagte zum Beispiel einmal in etwas zwiespältigem Tonfall zu mir: "Mein Vater ist voll fett und rülpst und furzt immer." Die beiden Geschwister stritten sich auch häufig, aber nie lange und nicht außerhalb eines für das Alter normalen Rahmens. Zwischendurch spürte ich dann auch immer wieder geschwisterliche Liebe und Nähe zwischen den beiden.
Ich kam stets abends, kochte den beiden Essen (zumeist Pfannkuchen), dann spielten wir noch ein bisschen bzw. schauten gemeinsam Fernsehen (oft, muss ich gestehen, aber ich verdiente 7 Euro die Stunde und sah mich selbst nicht als pädagogische Fachkraft). Dann badeten die zwei unter meiner Aufsicht, putzten Zähne, ich las beiden gemeinsam etwas vor und brachte zuerst sie und dann ihn ins Bett. E. bekam nach dem Zähneputzen ein Fläschchen (ich wunderte mich, waren die Eltern doch Zahnärzte) und weinte meist noch, nach ihrer Mutter verlangend. Ich durfte nicht gehen, bevor sie, meine Hand haltend, eingeschlafen war. Im Haus war es nun still und friedlich. Vielleicht las ich dann A. noch etwas vor. War er eingeschlafen, kamen die Eltern auch bald schon wieder, von ihrem Abendessen oder Konzert. Nachdem ich mein Gehalt erhalten hatte und der übliche Smalltalk vorbei war, fuhr der Vater mich nach Hause, wobei er häufig von seinen diversen Autos oder anderen Statussymbolen schwärmte und ich fleißig "Oh, ok" oder "Wow" sagte.
Ich war sogar einmal mit Allen für fünf Tage auf Mallorca. Ich bekam dafür kein Geld, aber Flug, Hotelzimmer und Essen bezahlt. Sie waren vom Vorstand von Audi zur vorletzten Wetten, Dass?-Show mit Gottschalk eingeladen worden, weil Dr. Dr. H. so ein guter Kunde war. Ich verbrachte keineswegs meine ganze Zeit mit ihnen und brauchte die Kinder nur an zwei Abenden zu betreuen. Es war okay soweit. H. war mir nach wie vor eher unangenehm, seine Frau war eigentlich ganz nett, aber mir war unbegreiflich was sie, jünger und deutlich attraktiver, an diesem Mann fand. Aber ich ließ mich auf die Situation ein. Am Morgen von ihrem Geburtstag, der zufällig auf den Kurztrip fiel, wurde ich auf das Hotelzimmer der Familie gebeten und wir stießen zusammen mit Champagner an. Wir fingen an, uns zu duzen. Mein Verhältnis zu den Kindern wurde auch enger. Einmal ging E. mit auf mein Hotelzimmer, nachdem wir im Pool gewesen waren, und schlief dort prompt in meinem Bett ein. Sie sah so süß aus, dass ich heimlich ein Foto machte. Es ist das einzige, dass ich selbst von einem der Kinder besitze.
Nach meinem Au Pair-Jahr wollte ich eigentlich nicht mehr babysitten, aber ich brauchte Geld, und die Mutter schrieb mich an, ob ich vorbeikommen wollte. Hinterher tranken die beiden Schnaps mit mir und waren freundlicher als ich sie in Erinnerung hatte. Es war mir ein bisschen unangenehm, da ich auch noch fahren musste und sie versuchten, mich zu einem weiteren Glas zu überreden.
Die letzte Erinnerung, die ich an die Kinder habe, ist, dass ich A. ins Bett brachte und er mich bat, mich zu ihm zu legen. Das war sonst gar nicht seine Art, zumal er ja jetzt auch älter war und berührte mich deshalb besonders. Wir unterhielten uns noch leise, ich weiß nicht mehr worüber. Als ich dachte, er schlief, wollte ich mich davonstehlen, aber er hielt mich fest und sagte so etwas wie "Hiergeblieben". Er war im Halbschlaf und seine Stimme klang viel jünger und weicher als sonst.
Das ist jetzt fünf Jahre her. Ich zog zum Studieren weg, was mein Verhältnis zu Familie H. abrupt beendete. Ich dachte aber noch oft an die Kinder und die kleineren und größeren Macken der Eltern. Wären die nicht gewesen, hätte ich mich bestimmt zumindest noch ein paar Mal gemeldet. So aber dachte ich oft mit gemischten Gefühlen an die gemeinsamen Zeiten zurück.
Mein Bericht mag verwirrend scheinen und scheinbar unwichtigen Details übermäßige Bedeutung beimessen. Dies wird vielleicht mit dem nächsten Teil verständlicher, denn es spiegelt die Art wieder, wie mein Denken zurzeit funktioniert.
Letzten Freitagmorgen wurden A. und E. tot im brennenden Elternhaus entdeckt. H. und H. wurden dagegen lebend aus der Garage geholt, wo sie sich offenbar im laufenden Auto mit Kohlenmonoxid vergiften wollten. Sie kamen zunächst in ein Krankenhaus und dann in U-Haft. Inzwischen lautet die Anklage auf gemeinschaftlichen Mord. Sie hätten an diesem Morgen das Haus räumen müssen, weil es zwangsversteigert worden war. Offenbar immense Schulden. Vielleicht hat der eine oder die andere von euch sogar etwas von der Medienberichterstattung mitbekommen.
Ich will mich nun kurz fassen (denn mein Beitrag ist schon viel zu lang, fürchte ich). Ich bin absolut am Boden zerstört seitdem. Ich musste mich fragen, ob ich überhaupt das Recht habe, derart um A. und E. zu trauern, da ich weder ein Familienmitglied bin noch übermäßig viel Zeit meines Lebens mit ihnen verbracht habe. Aber ich glaube, abgesehen von den grausamen, kaum fassbaren Umständen, geht man eine besondere Beziehung zu Kindern ein, für die man Verantwortung trägt. All diese kleinen Momente der Intimität. Mein Kopf fährt Karussell. Meine Freunde und meine Familie sagen: "Oh Gott, wie schlimm! Warum machen Menschen sowas nur? Und du kanntest die auch noch, unglaublich!"
Ich denke dann: Natürlich ist das schlimm. Das sind solche Fälle immer. Aber das hier sind A. und E.!!! Nicht irgendwelche gesichts- und namenlosen Opfer, sondern meine Kleinen.
Ich fühle mich unverstanden. Leute wollen dann immer früher oder später das Thema wechseln, aber ich kann mich nur kurzzeitig mit anderen Dingen befassen. Ich habe versucht, offensiv mit meiner Trauer umzugehen. Habe ein Bild von den beiden gemalt, ein Gedicht geschrieben, zwei Rosen vor dem alten Haus abgelegt, das ich so gut kenne und das nun ein Tatort mit Absperrband ist. Immer noch liegt mir ein Stein auf der Brust.
Natürlich spielt auch die Frage nach dem Warum eine Rolle für mich und ich checke obsessiv die News, ob es Neuigkeiten zu dem Fall gibt.
Zuerst wollte ich unbedingt wissen, ob die beiden leiden musste. Ich hoffte so sehr, dass dies nicht der Fall gewesen war. Ich dachte, als Ärzte hätten die Eltern ihnen heimlich ein Betäubungsmittel oder Ähnliches verabreicht. Dann ergab aber leider der Obduktionsbericht, dass sie an stumpfer und spitzer Gewalteinwirkung starben. Zwar waren sie tot, bevor das Feuer gelegt wurde, aber zumindest A.... nun, das ist nicht offiziell, aber ich habe von einer recht zuverlässigen Quelle erfahren, dass er bei Bewusstsein gewesen sein muss, als er starb. Die genauen Details erspare ich euch. Er war inzwischen ein großgewachsener, 13-jähriger Junge, wie mir ein paar Bilder bestätigten, die ich von ihm im Netz fand. Und er hatte offenbar versucht, wegzurennen. Das bricht mir zurzeit am meisten das Herz. Wenn ich dann an diesen Abend vor fünf Jahren denke, an dem ich neben ihm im Bett lag und alles ruhig und friedlich war, ist das eine solche Dissonanz, dass es mich schier zerreißt.