... mich selbst, irgendwie

  • Hallo zusammen,


    ich bin Profi. Mit dem Altern, dem Sterben und dem Tod kenne ich mich aus. Seit einigen Jahren arbeite ich als Seniorenbetreuerin, nach dem Tod meiner Großmutter 2016 habe ich eine Zusatzausbildung in Palliativbegleitung gemacht. Der Tod schreckt mich im Grunde nicht mehr, ich kenne ihn mit all seinen Facetten. Mal kommt er schleichend, dann wieder plötzlich, manchmal sogar als guter Freund, dann wieder in all seiner Grausamkeit mit Schmerzen und schrecklichem Leid. Nach etwa dreißig Begleitungen gehörte er zu meinem Leben dazu.


    Einem Leben, das wirklich gut lief. Bis zu diesem Samstag im letzten Jahr. Ihr kennt das, oder? Samstage sind geballter Stress. Einkaufen, putzen, waschen, aufholen, was während der Woche liegen geblieben ist. In einer langen Arbeitswoche. Dazu kommen die Kinder, die von A nach B gefahren werden wollen und wenn der Sohn Fußball spielt - ja, Samstage sind so eine Sache. Deswegen musste ich meinen Vater eine Woche vorher auch vertrösten mit dem Hinweis, Junior hat ein Spiel, keine Ahnung, wann wir wieder zu Hause sind. Wir hören einfach nochmal voneinander. So wie jede Woche eben.
    Ob es am Stress lag, der Hektik, der rennenden Zeit, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall ist mir tatsächlich erst mittags aufgefallen, hey, Papa hat sich noch gar nicht gemeldet, kommt er jetzt oder nicht? Normalerweise ist er jedes Wochenende gekommen, um mit den Jungs Bundesliga zu schauen.
    War aber auch keine Seltenheit, dass er mich nicht zusätzlich 'nerven' wollte mit seinen Anrufen, also habe ich ihn angerufen. Einmal, zweimal, zehnmal. Zehn Minuten später nochmal, dann praktisch im Sekundentakt. Jedes Mal Mailbox. Das zog sich über zwei Stunden und ich wusste, irgendwas stimmt da nicht. Das konnte einfach nicht sein. Mein Vater war immer, immer für uns erreichbar und sollte er wirklich mal nicht rangehen, hat er sofort zurückgerufen.


    Also habe ich meine Schwester angerufen. gefragt, hast du bis eben mit ihm telefoniert? Was von ihm gehört? Nein? Seltsam, wird doch nichts passiert sein? Ich habe sie noch beruhigt, es gibt ja immer noch Funklöcher, gerade bei uns. Im Einkaufscenter, eine Katastrophe. Trotzdem habe ich keine Ruhe gefunden und mit meiner Schwester beschlossen, zur Wohnung zu fahren.


    Natürlich hat niemand geöffnet, also habe ich kurz mit mir gerungen und dann beschlossen, mit dem Ersatzschlüssel reinzugehen. Schlüssel rein, Tür auf, drei Schritte, Blick nach links. Er hat auf dem Boden gelegen, die Augen aufgerissen, da war viel Blut.
    Was in der nächsten halben Stunde, Stunde, passiert ist, ich habe keine Ahnung. Der erste und einzige Filmriss meines Lebens.
    Das erste, an das ich mich erinnere sind Sirenen, Polizei, Krankenwagen, viele Menschen um mich rum. Meine Schwestern, die weinen, und ich sitze auf der Treppe vor dem Haus und bin wie erstarrt. Tausend Gedanken sind mir durch den Kopf gegangen, ganz sicher, erinnern kann ich mich an keinen.


    Ich weiß, dass ich unter Schock gestanden habe. Ich weiß, dass ich in meiner Trauer noch nicht so weit bin, wie ich sein sollte. Bis heute, nach anderthalb Jahren, kann ich mich nicht an alles erinnern und ich habe das Gefühl, ich brauche diese Erinnerung, um mit der endgültigen Trauerbewältigung anfangen zu können.


    In den ersten Tagen nach dem Tod meines Vaters habe ich ihn ständig angerufen, weil er doch rangehen musste. Ich begreife bis heute nicht, warum mir immer gesagt wird, die Nummer sei nicht vergeben. Das geht einfach nicht. Ich höre ihn noch im Hinterkopf, bilde mir manchmal ein, er meldet sich und dann freue ich mich. Bis dann doch niemand antwortet. Ich schreibe ihm Whatsapp-Nachrichten, diese Woche habe ich sogar ein Stück Donauwelle gekauft, weil er die gerne isst. Sonst niemand. Steht immer noch im Kühlschrank. Ja, ich weiß, er wird nicht kommen, sie essen, aber ich bringe es nicht über mich, sie zu entsorgen. Erfahrungsgemäß wird das mein Mann machen in der Hoffnung, dass ich ihn dann nicht wieder anschreie, warum er das macht.


    Bis heute arbeite ich nicht in der Hospizbetreuung, meine Chefin sagt, ich wäre noch längst nicht so weit. Sie hat recht. Weiß ich. Sie hat mir auch dringend zu einer Trauerbegleitung geraten, mit dem Hinweis: Du weißt, dass du das brauchst. Ja, weiß ich, aber ich will nicht. Ich will das nicht, was ich anderen immer wieder rate, mit logischen Argumenten untermauere und überzeugt bin, dass es hilft. Vielleicht will ich nicht, dass mir geholfen wird. Vielleicht möchte ich weiter festhängen in meiner Hoffnung, diesen wiederkehrenden, wenigen Sekunden, in denen ich mir einbilde, er kommt gleich.


    Manchmal träume ich von ihm. Einmal ist er gekommen und hat mich gefragt, was mit seiner Wohnung los sei, das wären nicht seine Möbel, die da drin stehen und andere Leute behaupten, jetzt da zu wohnen. Ein anderes Mal war er nur im Urlaub und war überrascht, wer sich da in seiner Wohnung eingenistet hat, den ich dann dort gefunden habe. Das ging sogar mal so weit, dass ich mitten in der Nacht meine Schwester angerufen und sie gefragt habe, ob sie wirklich sicher sei, dass er das war. In dem Moment wusste ich es wirklich nicht.


    Meine Schwester. Ja. Die macht sich Sorgen um mich. Sie sagte mal, meinen Vater zu finden, wäre schlimm gewesen. Sein Tod schrecklich, aber für sie war das Schlimmste, mich so zu sehen. Sie hätte noch nie solche Angst gehabt wie in dem Moment um mich, sie dachte, ich würde mich neben ihn legen und einfach auch sterben. Seine Nachbarin, deren Mutter bei uns auf der Station lebt, erzählte mir später, sie hätte noch nie einen Menschen so schreien hören, wie mich. All das weckt gar nichts in mir. Ich höre es, nicke, nehme es hin, weiß aber nichts davon. Was ich weiß, ist, dass ich tatsächlich nicht mehr die bin, die ich war. Geweint habe ich um meinen Vater nicht. Ich weine grundsätzlich nicht. Aber ich lache auch nicht mehr. Ja, ich tu so, manchmal freue ich mich sogar über etwas, aber sofort kommt der Gedanke, dass mein Vater nicht mehr da ist. Er es nicht mehr erleben kann. Er sich auch gefreut hätte. Dann kommen wieder die Fragen: Warum musste das sein? Er war erst 67, gesund, bis heute weiß ich nicht, woran er überhaupt gestorben ist. Ja nicht einmal den genauen Todestag kennen wir. Warum habe ich eigentlich erst mittags angerufen? Weil mir wieder hundert andere Sachen wichtiger waren.


    Die Ungewissheit macht mich noch wahnsinnig. Manchmal stelle ich mir vor, wie er versucht, ans Telefon zu kommen, um mich anzurufen. Wie er hofft, ich würde mich melden oder einfach früher kommen. Hatte er Schmerzen? Hat er mich gerufen? Gehofft, wir würden kommen? Unweigerlich folgen die Schuldgefühle über mein Versagen. Ja, ich weiß, ich hätte es zu 99% nicht verhindern können, da bleibt aber das eine Prozent, das mich verzweifeln lässt. Ich will einfach, dass er wieder da ist. Ich will, dass er die Freisprechung seines Enkels miterlebt haben könnte, ich will, dass er seine Enkelin heiraten sieht, seinen anderen Enkel im Trikot seines Lieblingsvereins sieht, zu dem Junior dieses Jahr gewechselt ist. Das hat er sich immer gewünscht und jetzt hat er es nicht erlebt. Warum? Das ist einfach nicht richtig. Alles fühlt sich falsch an, ohne ihn.


    Tut mir leid, dass der Text so lange geworden ist. Ich habe das wohl jetzt einfach gebraucht, das alles mal aufzuschreiben. Meine Gedanken zu teilen mit Menschen, die mir nicht sagen, es geht weiter, du weißt, dass das nicht so ist, bliblablub, irgendwann wird es besser, also Menschen wie mich praktisch. Ich bin ja Profi. Ich kenne den Tod. Dachte ich zumindest. Manchmal braucht es nur einen Moment und alles, was man wusste, wird zu Staub.


    Danke fürs Lesen,
    Brigantia

  • Liebe Brigantia, du kennst den Tod, sicher kennst du ihn, bist geschult in Sachen und uns in so vielem vorraus.
    Ja da gibt es die Tabellen, nach denen man vorgehen kann, an denen man sich orientieren darf.
    Es ähnelt sich oft vieles und Details sind wichtig um mit den Trauernden zurecht zu kommen.
    Auffangen, trösten, erklähren, alles was das Können und das HIrn hergibt, die Erfahrung.


    Nun ist es dir selbst passiert, die Seiten haben geweschselt.
    Wo wir dir vorraus sind eventuel, der Umgang mit der Seele, dem Herz, den Gedanken, dem Schmerz, diesen unendlich Schmerz des es wird nie wieder.


    Nun fühlst du es, was Du voreher nur erahnen konntest, wie teif es einen in die Knie zwingt und liebe gute Worte einfach nicht mehr reichen.
    Ja jeder reagiert anders und ihr seid so wichtig in euren Jobs, in euren Erfahrungen, und doch hat erstens jeder seine Grenze, und zweitens hat auch wohl jeder sein Gebiet.
    Bei dir braucht es nun etwas das tiefer geht, das versucht auch die Seele zu erreichen - nun hilft es nicht zu können und zu wissen nun muss geheilt werden, was eigentlich nicht zu heilen ist.
    Fragen suchen nach Antworten ,die es eigentlich gar nicht gibt.
    Das Hirn muss umgehen mit dem was es eigentich beherrscht und kann es mit den Gefühlen und der Seele nicht in Einklang bringen.


    Ich habe nichts gelernt, ich lerne seit Jahren von den Menschen hier, von und mit mir selbst - nein ich habe nicht das wahre Wissen ich habe nur mich, meine Wissen, meine Erfahrungen, mein Gefühl.
    Es ist einfach ein unheimlicher Unterschied zwischen Wissen und Gefühlen, zwischen geben und empfangen.
    Begreifen - ist so viel mehr als verstehen, mit allen Sinnen.
    Es ist annehmen wollen und es auch können - können lernen.


    Viele gute Antworten löschen sie nicht, die vielen Fragen im Kopf und logische Antworten werden einfach nicht akzeptiert, du weißt es ja.
    Wie will man Vermissen lernen oder lehren.
    Ich für mich sage es ist unmöglich, man kann es verarbeiten mit ganz viel Geduld, annehmen müssen und darauf hoffen das die Seele Frieden findet.
    Das aie annimmt, in dich sieht und weiß es ist, weil es anders nicht hat kommen sollen, sonst wäre es anders gekommen.
    Dumme Floskel, habe ich erst auch gedacht, heute aber weiß ich es kommt immer als wie es muss, wir lernen nie aus, vieleicht machen wir es in einerfolgenden Situation dann anders aber hat keine Garantie darauf das es dann richitger wäre.


    Schiksal, ich stelle es in den Raum, es lässt sich gar nichts ändern darin - wir sind ein jeder nur Mensch.
    Ich wünsche dir alles was es gerade für dich braucht.Vor allem Worte die deine Seele zu erreichen wissen.


    Mit einer lieben Umärmelung,
    Funny.

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