Gestern las ich den Satz von einer Trauernden sie lebe noch zu sehr in der Vergangenheit und schaue noch nicht nach vorne.
Fast hätte ich das kommentiert.
Denn es kribbelte mir in den Fingern zu schreiben, dass ich nie in der Vergangenheit gelebt habe. Und auch nicht nach vorne blicke.
So in dem Sinne, dass ich ja sowieso nicht in die Zukunft sehen kann.
Aber dann dachte ich, so wörtlich kann das ja eigentlich nicht gemeint gewesen sein.
Es geht wohl eher darum sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen. So wie ich das ja auch getan habe.
Vorzugsweise und vor allem mit all dem was ich falsch gemacht habe.
Bis mir irgendwann dämmerte wie unsinnig und brotlos das ist und ich schlicht die Nase davon gestrichen voll hatte.
Bis ich verstanden hatte, dass es nur jetzt, dass es nur die Gegenwart gibt.
Und dass nur das zählt.
Weil ich weder das Vergangene noch das noch nicht Geschehene beeinflussen kann.
Eigentlich eine vollkommen klare Angelegenheit.
Mit dem nach vorne sehen ist es aber nicht so klar und einfach.
Einerseits kann ich sagen, dass ich nicht nach vorne sehe.
Nicht nur weil ich kein Hellseher bin, sondern auch weil das nach vorne Sehen immer etwas damit zu tun hatte, dass es ein gemeinsames Vorne gab, etwas wohin dieses Wir, das es nun seit fast 3 Jahren nicht mehr gibt, gemeinsam hin wollte, etwas, das wir erreichen wollten, das aber vor allem darin bestand, dass wir uns wünschten, dass dieses Wir, so wie wir es hatten, bestehen bleibt.
Doch wo dieses Wir nicht mehr ist,da gibt es auch dieses Vorne nicht mehr, sondern nur noch das Ist und das Jetzt.
Das ist ein Zustand und eine Blickrichtung, die mit Alleinsein und zuweilen auch mit Einsamkeit einher geht.
Hört sich schlimmer an als es ist, denn wirklich allein bin ich selten, und das verdeckt zu einem großen Teil die Einsamkeit, die in einer stillen Ecke in mir lauert.
Hinzu kommt, dass es jemanden gibt, mit dem ich mich sehr verbunden fühle.
Eine Verbundenheit, die, soweit ich das erkenne, nicht mit einem Wir zu tun hat und die deshalb auch keinen zwangsläufigen oder vermeintlich naheliegenden Blick nach vorne mit sich bringt.
Und das ist auch gut so, denn ich möchte überhaupt nicht wieder in ein Leben geraten, in dem ich so besinnungslos im Jetzt mir ein Morgen erträume oder irgendetwas auf ein Irgendwann verschiebe.
Weil ich mir einbilde, dass ja noch sooo viel Zeit ist.
Denn das stimmt einfach nicht.
Es ist nur ganz wenig Zeit, es ist nur dieser eine, dieser einzige Augenblick.
Immer.
Und andererseits sehe ich ja doch ein wenig nach vorne.
Weil Leben anders schwer vorstellbar ist, weil allein der Alltag es erfordert. Und weil ich mir Ziele setze.
Der Unterschied zu früher ist, dass es meine eigenen, alleinigen Ziele sind.
Die sind aber nach der Erfahrung dieser Zäsur von vor drei Jahren irgendwie klein, nicht auf einen langen Zeitraum ausgelegt.
Im Grunde sind sie sogar bedeutungslos, es macht nichts, wenn ich sie nicht erreiche. Sie füllen meine Phantasie und meine Zeit und es macht mir Freude daran zu arbeiten.
Ich blicke also allenfalls ein sehr kleines Stückchen nach vorne.
So ähnlich wie ich das beim Laufen oft gerne mache. Ich blicke auf den Boden vor mir und in Abständen blicke ich auf und stelle fest wie es um mich herum aussieht und wo ich mich befinde.
Und dann geht es weiter – immer einen Schritt nach dem anderen.
Und dann war da noch ein Satz.
Jemand schrieb sie habe die Trauer noch nicht ‚abgehakt‘ und das könne man wohl auch nie. Oder so ähnlich.
Wirklich nicht?
Nicht nur weil da dieses verdächtige Wort ‚nie‘ stand machte es mich stutzig, sondern weil es mir seit einiger Zeit so geht als wäre das doch möglich.
Da ist zum einen diese banale und entspannte Normalität, die mich umfängt, die nicht den Hauch von Ausnahmesituation mehr hat und zum anderen die Erfahrung, dass es anscheinend keine ‚besonderen‘ – im Sinne von besonderes schwierigen oder gar schlimmen – Tage mehr gibt.
Was für ein geradezu alltägliches Weihnachten, was für ein bedeutungsloses Silvester!
Und wo sind die schrecklichen zwölften oder dreizehnten des Monats geblieben?
Letzten Endes ist die Frage nach dem Abhaken der Trauer wie so vieles eine Frage der Definition.
Für mich bedeutet abhaken nicht, den liebsten Menschen zu vergessen, sondern das Ende des tiefen Schmerzes.
An seine Stelle ist Wehmut getreten. Da steckt zwar auch das Wörtchen ‚weh‘ drin - aber da steckt auch ‚mut‘ drin!
Und deshalb ist es allenfalls ein sehr sanftes, leichtes Weh, das gemischt ist mit Liebe, Freude und Dankbarkeit.
Trauer ist für mich etwas anderes.